Buchrezension – Hannah Barnes: Time to think.

The Inside Story of the Collapse of the Tavistock´s Gender Service for Children „Zeit zum Nachdenken, time to think“ ist das Mantra derer, die Pubertätsblocker für die Behandlung von jugendlichen gender dysphorischen Menschen empfehlen. Rezension von Bettina Reiter

— Ende Vorschau —

Time to think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock´s Gender Service for Children
London. Swift Press, 2023, 445 Seiten – ISBN 978-1-80075-111-8
Sprache: englisch

Der Titel des Buches ist mindestens doppeldeutig: „Zeit zum Nachdenken, time to think“ ist das Mantra derer, die Pubertätsblocker für die Behandlung von jugendlichen gender dysphorischen Menschen empfehlen. Die Idee dahinter ist, dass Jugendliche damit ihre Pubertätsentwicklung anhalten können, was ihnen Zeit zum Nachdenken verschaffen (soll), bevor sie sich auf die Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen und eventuell später auf chirurgische Maßnahmen einlassen.

Bild Quelle: Thalia

Soweit die Idee, die sich menschenfreundlich und behutsam anhört.

Die Realität jedoch ist eher düster. „Time to think“ heißt hier auch: Zeit zum Nachdenken über Fehler, zum Rekonstruieren der Vorgänge und zum Neuordnen:

Eines (wahrscheinlich das größte) Zentrum weltweit, das Erfahrung mit der Anwendung von Pubertätsblockern gemacht hat, ist der weltberühmte Tavistock Trust in London, ein international anerkanntes Zentrum für Psychiatrisch-psychotherapeutische, klinische und wissenschaftliche Arbeit. Der dort angesiedelte „Gender Identity Development Service“ (GIDS) hat seit seiner Gründung 1989 etwa 10.000 Kinder und Jugendliche mit der Zuweisungsdiagnose „fragliche Gender Dysphorie“ evaluiert. Die Aufgabe des Dienstes war, eine korrekte Diagnose zu stellen und die weitere Behandlung zu planen. GIDS war nie selbst ein Therapiezentrum, sollte aber dafür sorgen, dass Gender Dysphorie erkannt und gut betreut wird, aber natürlich auch, dass andere psychische und soziale Probleme der Kinder und Jugendlichen entsprechend adressiert werden können, wenn eine Gender Dysphorie ausgeschlossen werden kann.

Von diesen etwa 10.000 Kindern wurde eine unbekannte Zahl von Jugendlichen an Endokrinologen zugewiesen, die dann die Pubertätsblocker administrierten.

Unbekannt, weil GIDS keinerlei Daten ermittelt hat, keine Verläufe aufgezeichnet hat, die weitere Entwicklung der Patientinnen nicht dokumentiert hat. Sie haben „im Blinden“ gearbeitet und hatten keine Ahnung, ob und wie ihre Therapieempfehlung die weitere psychische und soziale Entwicklung der PatientInnen beeinflusst.

Das alleine ist schon ein gravierender medizinischer Skandal. Tavistock ist schließlich kein Bezirksspital im Nordwesten Englands. 

Der Skandal vergrößert sich aber nochmals beträchtlich: nicht nur wurden die Patientinnen nicht nachverfolgt, auch die Behandlung selbst ist alles andere als gute, bewährte medizinische Praxis. 

Pubertätsblocker sind Substanzen, die die Sekretion von Sexualhormonen unterdrücken. Mädchen bekommen also keine Brüste und keine Menarche, Burschen keinen Bart und keine Erektionen etc … sie bleiben Kinder. Sie bleiben auch in der Entwicklung der anderen Körperfunktionen (Größe, Denken, soziale Einbindung, sexueller Appetit) hinter den gleichaltrigen Freundinnen zurück. Die Nebenwirkungen der Pubertätsblocker sind extrem: Osteoporose, Gewichtszunahme. Depressionen, kognitive Entwicklungshemmung, Anhedonie (sexuelle Lustlosigkeit), Infertilität. 

Zwar betonen die Befürworter dieses Therapieweges immer, dass alles reversibel sei, also dass die Auswirkungen und Nebenwirkungen sich zurückbilden, wenn man aufhört, die Blocker einzunehmen, aber es liegen dazu keine belastbaren Daten vor. Faktum ist, dass die Medizin keine Kenntnis darüber hat, wie sich Pubertätsblocker langfristig auswirken. Es handelt sich um experimentelle Therapien, die keinem einzigen Standard von „Evidence base“ genügen.

Hannah Barnes, die Autorin dieses extrem gut dokumentierten und sorgfältigen Buches, war Journalistin bei dem BBC Fernsehformat „Newsnight“ (vielleicht am ehesten mit der ZIB 2 in Österreich vergleichbar, allerdings bedeutend angriffiger und gründlicher). 

Das Buch befasst sich aber nicht nur mit der Pubertätsblocker Sache. Es ist eine sehr gut erzählte, sorgfältig dokumentierte und überhaupt nicht polemische Darstellung der Geschichte dieses medizinischen Dienstes, der sich von einer revolutionären Rolle zu Zeiten seiner Gründung (Zeit und Muße und psychodynamisches Verständnis für alle, die mit ihrer biologischen Geschlechtszugehörigkeit hadern oder sie infrage stellen) zu einer ideologiegetriebenen, kritikunfähigen Institution entwickelt hat. 

Die Autorin hat mit ca 60 MitarbeiterInnen von GIDS gesprochen, mit den nicht wenigen Whistleblowern und mit vielen PatientInnen. Die Ideologie der „Gender affirming Care“ wurde (und wird) – weltweit, nicht nur in UK! – von Aktivisten aus der LBTIQ+ Szene und Medizinern vertreten, die ,meine, damit auf der richtigen, der weltoffenen Seite der Medizin zu stehen. Der Seite, die die Patienten ernst nimmt, sie empowert, sich als ihr Verbündeter betrachtet und ein gutes Selbstgefühl erringt, indem es den Wünschen der Patienten entspricht. 

Im Falle von GIDS gab es sogar persönliche und institutionelle Verknüpfungen mit Transaktivistischen Pressure Groups. Bei GIDS wurde das gemacht, was aktivistische Gruppen wie „Mermaids“ verlangten (die sich sogar in die Personalpolitik einmischten). MitarbeiterInnen, die sich besorgt über die mangelnde Sorgfalt im Assessment der Jugendlichen äußerten, mussten sich „Transphobie“ vorhalten lassen, Auseinandersetzungen mit anderen klinischen Positionen wurden nicht ermutigt, es entwickelte sich eine Kultur der Monomanie in Richtung medizinischer Therapie. 

Ein Teil dieser monomanen Entwicklung ist sicher dem Umstand zu schulden, dass die Zuweisungsraten so extrem in die Höhe geschnellt sind. Von 97 Zuweisungen im Jahr 2009/10 auf 2.748 im Jahr 2019/2020 – was einem Anstieg von 2800 % entspricht. Noch krasser ist die Erhöhung für Mädchen: 4700 % Steigerungsrate im selben Zeitraum, von 40 auf 1.892!

GIDS kam mit den bestehenden Personalressourcen natürlich nicht hinterher. Die Folge: immer jüngere, wenig erfahrene TherapeutInnen wurden eingestellt, die erforderliche Sitzungsfrequenz für ein abgeschlossenes Assessment wurde von mindestens 6 Sitzungen auf 4 erniedrigt – und oft wurden Zuweisungen an die Endokrinologen schon im ersten oder zweiten Gespräch vorgenommen. 

Dazu kam, dass die sprunghaft ansteigenden Patientenzahlen dem „Trust“ auch ein sicheres und nicht kleines Einkommen verschafften. GIDS war 2021 für etwa 20 % der Einnahmen des gesamten Tavistock Trust verantwortlich. Das erhöht auch nicht gerade die Bereitschaft, kritisch zu hinterfragen, wenn eine ambulante Einrichtung ein so gutes Geschäft für die Gesamtinstitution ist.

Es ist also eine toxische Mischung, die Hannah Barnes für die tragische Entwicklung des einst so stolzen und angesehenen Dienstes beschreibt:

Gesellschaftlicher Druck – „Gender affirming Care“ ist Mode in den westlichen Gesellschaften und es gibt durchaus auch legislativen Druck in Richtung mehr Anerkennung für nicht biologisch verstandene Geschlechtsidentität

Patienten Nachfrage – der Dienst kam immer mehr unter den Zugzwang der vielen jungen Menschen, die sich plötzlich als gender dysphorisch erleben. Darunter leidet die Qualität der Angebote und die Sorgfalt der Arbeit.

Einfluss von Pressure Groups – die leitenden Personen von GIDS haben sich – warum individuell auch immer – vor den Karren der Agenda von Transaktivisten spannen lassen. Das hat auch ein Klima des Gesprächsverbotes in der Institution selbst begünstigt.

Ökonomischer Profit – es ist schwer, einen besonders profitablen Teil des Einkommens einer Institution kritisch zu hinterfragen.

Schlechte Führung – nicht nur GIDS selbst, sondern auch der Trust insgesamt haben ihre Sorgfaltspflicht und ihre Führungsaufgaben jahrelang vernachlässigt. Es gab mehrere Whistleblower , auch einen ausführlichen Bericht über die Sorgen und Beschwerden von nicht weniger als 13 MitarbeiterInnen von GIDS, einen offenen Brief einer Mitarbeiterin …. nichts passierte. 

Es brauchte viele Anstöße, um dieses Schiff zum wanken zu bringen. Einen Arbeitsrechtsprozess einer Mitarbeiterin, den sie gegen den Trust gewann. Den Bericht der Mitarbeiterinnen, vor allem aber den sehr öffentlichkeitswirksamen Prozess, den eine junge Frau gegen den Tavistock Trust führte, die als Patientin genau in die Mühle der Pubertätsblocker Anwendung gekommen war. Keira Bell wollte als Jugendliche unbedingt ein Mann werden. Sie versprach sich davon eine grundlegende Besserung ihres Zustandes, den sie als quälend und ohne jede positive Perspektive erlebte. Die Behandlung mit Blockern begann, als sie 16 war, mit 17 Testosteron, mit 20 eine doppelte Mastektomie. ( https://www.persuasion.community/p/keira-bell-my-story) Sie ist die prominenteste „Detransitioner“,  ein junger Mensch, der die Entscheidung zur Transition bereut und wieder zurück in das biologische Geschlecht wechselt, Behandlungen aufhört und mit den Schäden, die die medizinischen Maßnahmen angerichtet haben, irgendwie leben will und muss.

Das Londoner Gericht hat in erster Instanz entschieden, dass Blocker nicht mehr an Jugendliche unter 16 Jahren verschrieben werden dürfen. Dieses Urteil wurde zwar in 2. Instanz geändert: solche Entscheidungen, da medizinisch, können nur von Ärzten getroffen werden – aber der Blick der Öffentlichkeit auf GIDS konnte nicht mehr abgewendet werden.

Der NHS Trust hat 2020 eine der angesehensten Kinderärztinnen in UK, Dr. Hilary Cass, mit der unabhängigen Untersuchung von GIDS beauftragt. Deren vorläufiger Bericht aus dem März 2022 hat zur Ankündigung der Schließung von GIDS geführt, die nun, ein Jahr später, unmittelbar bevorsteht.

In Zukunft soll es mehrere (7-8) regionale Zentren geben, die an Kinderkliniken angeschlossen sind und sich vor allem der psychischen und sozialen Situation von gender dysphorischen Kindern und Jugendlichen widmen sollen.

Warum ist dieses Buch wichtig?

Es ist ein unglaubliches Lehrstück der Verwobenheit von Medizin, Gesellschaft, Ideologie und Geschäft.

Eine toxische Mischung auf Kosten von vielen Kindern. Wir wissen nicht, wievielen, und das gehört auch ins Zentrum dieses medizinischen und gesellschaftlichen Skandals.

Auf kleinerer Flamme findet sich diese toxische Mischung natürlich auch in unserer Alpenrepublik.

Aktivisten bieten „Therapien“ für Genderdysphorie an, die ausschließlich affirming sind, Chirurgen amputieren jungen Mädchen privatmedizinisch Brüste, Aktivisten sitzen in Beratungsgremien von Ministerien. Alles unter derselben Flagge, unter der auch GIDS so lange gelaufen ist: „be kind“, sei einfühlsam, unterstützend und nett. 

von Bettina Reiter am 07.04.2023

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